Am 9. und 10. November 1938 wurden auch in Düsseldorf Jüdinnen und Juden überfallen, ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört. Mit einer Rede beteiligte sich der Jugendring Düsseldorf an der städtischen Gedenkstunde für die Opfer des Novemberpogroms.
Mehr als 450 Angriffe, mindestens 70 teils schwer verletzte Düsseldorfer*innen und 13 Tote – das ist die traurige Bilanz dieser Stunden. Das gezielt geplante Novemberpogrom stellte den vorläufigen Höhepunkt der sich verschärfenden anti-jüdischen Politik der Nationalsozialisten dar. Jedes Jahr erinnert die Stadt Düsseldorf mit unterschiedlichen Veranstaltungen an die Pogromnacht. Bei der Gedenkstunde im Plenarsaal des Rathauses wurde dem Jugendring Düsseldorf in diesem Jahr eine besondere Ehre zuteil: Andreas Kremer, der Vorsitzende des Jugendrings, und Katharina Schunck, Bildungsreferentin im Jugendring, erinnerten in einer Rede an das Schicksal von Alfred Altmann. Der junge Düsseldorfer war wenige Monate nach dem Pogrom mit einem Kindertransport nach England geflüchtet. Ausgehend von der Fluchterfahrung Alfred Altmanns mahnten die beiden Redner*innen dazu, aus der Vergangenheit eine Verantwortung für die Gegenwart abzuleiten und auch heute „auf politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ebene Verbündete für Menschen auf der Flucht“ zu sein.
Die Gedenkworte zum Nachlesen:
„Geliebte Eltern. Sehr besorgt, keine Nachricht seit einem Jahr. Bin ganz wohlauf. Denke immer an euch. Baldiges Wiedersehen. In Liebe euer Alfred.“
Im Herbst 1942 stellt Alfred Altmann in Kanada einen Suchantrag beim Roten Kreuz. Er ist 20 Jahre alt und auf der Suche nach seinen Eltern David und Johanna. Fast vier Jahre zuvor hatte Alfred sich in Düsseldorf von den Eltern verabschiedet. Ein Kindertransport brachte den gerade 17-Jährigen nach England. Die Flucht war mit großen Hoffnungen verbunden. David und Johanna wünschten ihrem einzigen Kind eine sichere und freie Zukunft fernab der nationalsozialistischen Verfolgung.
Wenige Monate vor Alfreds Abreise hatte die Familie die Grausamkeiten des Novemberpogroms in Düsseldorf erleben müssen. Auch die Wohnung der Altmanns in der Blumenstraße war von zwei SS-Männern völlig verwüstet worden. Der Schock der Erlebnisse saß tief. Auch seine Ausbildung zum Maschinenschlosser hatte Alfred nach dem Pogrom nicht weiterführen können. Als sich über die jüdische Gemeinde schließlich die Chance für Alfred ergab, nach England zu gelangen, nutzten die Altmanns diese.
Doch was als Flucht in die Sicherheit gedacht war, endet für Alfred in einer zweiten Tragödie. Im Kriegsverlauf ändert sich die politische Stimmung in England gegenüber Geflüchteten. Alfred wird wie tausende andere als „feindlicher Ausländer“ eingestuft. Er wird interniert und schließlich nach Kanada deportiert. Die Überfahrt in überfüllten Schiffen, in denen auch überzeugte Nationalsozialisten sitzen, und unter der ständigen Angst von der deutschen Marine angegriffen zu werden, ist für den jungen Alfred eine grausame Erfahrung.
Auch aus den kanadischen Internierungslagern heraus kann Alfred den Briefkontakt zu seinen Eltern aufrechterhalten. Liebe und tiefe Verbundenheit zu ihrem Sohn, die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft und die Sehnsucht nach einem Wiedersehen prägen die Briefe der Eltern. Auch über die große Entfernung und die Zensur hinweg gibt sich die Familie Halt. Nachdem Alfred der Blinddarm entfernt werden musste, schreibt seine Mutter:
„Du kannst Dir denken wie sehr ich es bedauere, Dir mein guter Junge keine Stütze sein zu können, doch hoffe ich sehnlichst, daß die Zeit nicht allzu fern sein wird, wo dies wieder der Fall ist.“
Etwa zwei Monate nach diesen Zeilen, Ende Oktober 1941, müssen David und Johanna sich an der Sammelstelle am Schlachthof an der Rather Straße einfinden. Sie werden zusammen mit 1001 weiteren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf in das Ghetto in Łódź verschleppt. Der Kontakt zu ihrem Sohn endet mit der Deportation. Alfred bleibt in Kanada im Ungewissen zurück.
Anfang März 1943 erhält Alfred endlich eine Antwort auf seine Suchanfrage. Julius Dreifuss schreibt aus dem sogenannten „Judenhaus“ in der Teutonenstraße, in dem auch David und Johanna in ihren letzten Jahren in Düsseldorf hatten leben müssen:
„Eltern seit einem Jahr verreist. Adresse unbekannt. Wünsche weiter Gesundheit.“
Von der Verschleppung, die Julius Dreifuss verschleiernd als „Reise“ beschreibt, kehrt das Ehepaar Altmann nie wieder zurück. Erst 1946 erhält Alfred die erschütternde Nachricht: Seine Eltern sind tot. David und Johanna Altmann wurden – wahrscheinlich im Jahr 1944 – in Auschwitz ermordet. Alfreds Hoffnung, die Eltern noch einmal in den Arm nehmen zu können, erfüllt sich nicht.
Alfred Altmanns Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal vieler junger Menschen, die vom nationalsozialistischen Deutschland verfolgt wurden. Es ist ein Beispiel für das Zerplatzen von Träumen und Hoffnungen. Es ist ein Beispiel für eine Generation, die nicht nur ihrer Jugend, sondern auch ihrer Heimat und vielfach ihrer Familien beraubt wurde. Wenige hatten wie Alfred das Glück, überhaupt zu überleben.
Die Flucht war ohne Frage Alfreds Rettung. Dennoch war sie für ihn mit schmerzlicher Trennung, zunehmender Entwurzelung und dem Ausgeliefertsein gegenüber einem ihm fremden und plötzlich feindlich gesinntem Aufnahmeland verbunden. Auch heute befinden sich viele junge Menschen auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen oder vor Verfolgung in ihren Heimatländern. Sie versuchen verzweifelt mit zurückgebliebenen Verwandten und Freunden Kontakt zu halten. Digitale Medien erleichtern dies zwar, sind jedoch auch gleichzeitig wesentlich unmittelbarer. Handyvideos aus der Ukraine, Syrien, dem Jemen, aus Iran und vielen anderen Orten dieser Welt, führen den Schrecken anschaulich vor Augen. Sie sollten uns daran erinnern, nicht beim Blick in die Vergangenheit stehen zu bleiben, sondern unsere Verantwortung für die Gegenwart daraus abzuleiten.
Lassen Sie uns als Demokratie, auf politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ebene Verbündete für Menschen auf der Flucht sein!
Lassen Sie uns nicht nur Empathie mit Alfred Altmann empfinden, sondern auch für jene Menschen, die heute – zum Beispiel hier in Düsseldorf – einen sicheren Hafen suchen.